Das steinerne Brot

Ja, so ist es; alle bösen Geister und jeder Spuk der Heimat ist auf diese Brücke gebannt, und alle Sagen und Maren der Umgegend hängen irgendwie an ihren Steinen. Von den vielen Geschichten sei an dieser Stelle die eine erzählt: Die Geschichte vom steinernen Brot, weil gerade sie ein wesentliches Merkmal meiner Heimat spiegelt, wo nur allzuoft die Leute statt Brot nichts als Steine ernteten.

In einer armen Zeit, wo auf den Äckern wieder nichts gewachsen war, weil die dörrenden Strahlen der Sonne allen Lebenssaft des Schiefergesteins und der dünnen Ackerkrume versiegt hatten, war der Hunger in den Dörfern groß. Da konnte man die beste Wiese für ein einziges Brot erwerben; selbst den bodenreichsten Bauern fror der Backofen, und die Mühlen im Tale rosteten ein. Sie standen auch noch still, als der Herbst reiche Wassermengen brachte; was nützte jetzt das Wasser, wenn kein Korn da war, es aufzuschütten?

Da schickte eines Tages ein Bauersmann, den eine vielköpfige Kinderschar hungrig anschaute, seinen ältesten Jungen hinunter zu den Mönchen des Klosters Martental. Da solle er demütig anklopfen und in Gottes Barmherzigkeit um etwas Nahrung bitten. Sicherlich seien die Mönche bereit, ihr aufgespeichertes Korn und Brot in helfender Liebe mit den Armen zu teilen.

So war es auch. Die Mönche steckten dem Knaben einen runden Brotlaib in seinen Rucksack, so groß war das Brot, daß es noch ein gutes Stück aus dem Rucksack schaute. Frohgemut machte sich der Junge auf den Heimweg. Wie er auf die Endertbrücke kam, saß dort eine Frau mit entfleischtem Gesicht und knochigen Fingern und hielt auf ihrem Schoße ein Kind. Es war in Tücher eingehüllt, nur das blasse Gesichtchen schaute elend heraus. "Ach", schrie die Frau, wie der Junge vorüberging, "gib mir um Gotteswillen ein Stück von deinem Brot! Mein Kind hat Hunger." - "Ei", sagte der Knabe, "Frau, geht droben ins Kloster, die Mönche geben. euch gerne Brot. Ich habe nur das eine und kann euch nichts davon geben." - "So weit kann ich nicht mehr gehen", stöhnte das arme Weib. "Ich bin so elend und müde, und mein Kind stirbt! Gib mir ein einziges Stück Brot!" -"Nein!" rief der Junge, und er lief den Berg hinauf nach Hause.

Da saßen alle Kinder, vor Hunger zitternd, schon um den Tisch herum, und der Vater hatte schon das große Brotmesser in der Hand, als der Junge in die Stube trat. Wie aber der Vater das Brot aus dem Rucksack nahm, kam es ihm so schwer und hart vor, und als er das Kreuzzeichen darauf gemacht hatte und es anschneiden wollte, rutschte das scharfe Messer aus und ritzte ihm die Hand. Nun merkten sie, daß es ein großer, runder Stein war, was der Bruder heimgebracht hatte, und die Kinder weinten erbärmlich. Jetzt mußte der Junge erzählen, was die Mönche gesagt und was sie ihm gegeben hätten, und er erzählte auch, was sich unterwegs zugetragen hatte. Als er von der armen Frau berichtete, schimpfte der Vater und sagte: "Da haben wir's; für deine Hartherzigkeit ist aus dem Brot ein Stein geworden, so wie du statt des Herzens einen Stein in dir trägst. Es ist uns recht geschehen!"

Er schickte den Jungen eiligst mit dem Stein im Rucksack zurück zur Brücke und zum Kloster, - indem er hoffte, es - werde wieder alles gut.  Als der Knabe auf die Brücke kam, lag dort das Kind und war tot. Die fremde Frau aber war davongegangen weiter in die Welt. Peter Kremer